Mit der ESC-Trophäe in der Hand in Malmö
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Nemo im Siegestaumel

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"Nichts ist besser als Freiheit": Schweizer "Nemo" gewinnt ESC

Die Wettbüros lagen wieder mal (fast) richtig: Eine rosarote, pansexuelle Show aus der Schweiz räumte in Malmö groß ab: Nemo, nicht binär orientiert, begeisterte Jury und Publikum. Deutschlands Sänger Isaak landete im achtbaren Mittelfeld.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Manch einen irritierte die grelle "Flamingo"-Optik von Nemo, bürgerlich Nemo Mettler. Doch die Schweizer Künstlerpersönlichkeit, die sich als nicht binär, also weder als Frau, noch als Mann versteht, traf den Geschmack der ESC-Fans - und zwar fulminant. Gleich bei den ersten Punkte-Vergaben der nationalen Jurys war klar, dass der Song "The Code" ganz groß abräumen würde. Am Ende gab es 591 Punkte, wobei Nemo das TV-Publikum nicht ganz so begeisterte wie die Fachleute: Bei den Zuschauern kam er "nur" auf Platz fünf. Ob sein Triumph an der musikalischen Qualität des Lieds lag oder doch eher an dem Auftreten und der Botschaft des Interpreten zum aktuellen Diskurs über Geschlechtsidentitäten, das sei dahingestellt.

Für die einen eifert Nemo mit dem artistischen Gesang keinem geringeren als dem mythischen Helden Orpheus persönlich nach, für andere ist die Künstlerpersönlichkeit "ein einziges Barmen". Doch unter dem sehr divers aufgestellten Publikum des Eurovision Song Contest kam Nemo an, schon die zahlreichen Interview-Anfragen im Vorfeld waren ein Indiz dafür, dass der Act ganz vorn mitspielen würde.

"Weder Frau noch Mann"

Die Schweiz gewann den ESC zuletzt mit der kanadischen Sängerin Céline Dion ("Ne Partez Pas Sans Moi") 1988. Erste Schweizer Grand-Prix-Siegerin war Lys Assia 1956. Schon zwei Wochen nach der Bekanntgabe Ende Februar kletterte Nemo mit dem eigenen Beitrag bei den Wettanbietern auf Platz vier.

Über seinen Song "The Code" sagte Nemo: "Er handelt von der Reise, die ich mit der Erkenntnis begann, dass ich weder ein Mann noch eine Frau bin. Die Selbstfindung war für mich ein langer und oft schwieriger Prozess. Aber nichts fühlt sich besser an als die Freiheit, die ich durch die Erkenntnis gewonnen habe, dass ich nicht-binär bin. Es ist eine unglaubliche Ehre, die Schweiz am Eurovision Song Contest vertreten zu dürfen. Diese Plattform bietet eine riesige Chance, Brücken zwischen verschiedenen Kulturen und Generationen zu bauen. Deshalb ist es mir als gender-queere Person sehr wichtig, für die gesamte LGBTQIA+-Community einzustehen."

Deutschland erlangt beachtlichen Platz 12

Der deutsche Song "Always On The Run", interpretiert vom früheren Straßenmusiker und TV-Talentshow-Teilnehmer Isaak, kam auf den - nach einigen Blamagen in den vergangenen Jahren - durchaus beachtlichen Platz 12 (117 Punkte). Gleich zu Beginn der Punktevergabe war klar, dass Deutschland in diesem Jahr nicht mit null Zählern vom Platz gehen würde: Aus der Ukraine kamen von der dortigen Jury ansehnliche sieben Punkte. Überhaupt gefiel den Fachleuten Isaaks Auftritt besser als den Zuschauern: Die europäischen Jurys setzten ihn auf Platz 10 (99 Punkte), die Tele-Voter nur auf Platz 19 (18 Punkte).

Deutschlands Beitrag galt den britischen Wettbüros und ihren Kunden als "depressiv" und vor "Selbstmitleid triefend", was die Aussichten von vorneherein sehr eintrübte: Isaak lag bei den Wettanbietern unmittelbar vor dem Finale auf dem drittletzten Platz. Mit dem ESC hatte Deutschland übrigens von Anfang an wenig Glück: Dreimal (1964, 1965 und 2015) bekamen die Auftritte deutscher Teilnehmer null Punkte, zehnmal waren sie Schlusslicht.

Auf den vordersten Plätzen landete, wie vorhersagt, "Baby Lasagna" aus Kroatien mit dem Folklore-Hit "Rim Tim Tagi Dim" (Platz 2, 547 Punkte) vor der Ukraine, Frankreich und Israel, wobei das TV-Publikum Israel deutlich besser bewertete als die Fachjurys. Aus Deutschland bekam Israel von den abstimmenden Zuschauern zwölf Punkte, von der deutschen Jury lediglich acht Punkte.

Großaufgebot der Polizei schützte Arena

Soviel mediale Aufmerksamkeit wie in diesem Jahr bekam der ESC selten, was nicht an den Songs und den Künstlern lag. Es wird vor allem der politische Streit im Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt sein, der in Erinnerung bleiben wird. Ein Großaufgebot der Polizei musste die 15.000 Zuschauer fassende Arena in Malmö schützen, weil israelkritische Demonstranten eine Sitzblockade versuchten.

Dabei wurde auch die bekannte Klima-Aktivistin Greta Thunberg abgeführt. Sie vertrat den Standpunkt, der Wettbewerb sei nicht, wie offiziell behauptet, "unpolitisch". Thunberg postete: "Wir werden nicht hinnehmen, dass einem Land, das derzeit Völkermord begeht, eine Plattform geboten wird, um sich selbst mit Kunst reinzuwaschen." Thunbergs Mutter Malena Ernman hatte 2009 für Schweden am ESC teilgenommen. Aus Norwegen und Finnland hieß es, es fühle sich in diesem Jahr "nicht richtig" an, die Punktevergabe zu moderieren.

"Ich liebe euch alle so sehr"

Die nicht-binäre Person "Bambi Thug", die für Irland ins Rennen ging, hatte gefordert, Israel auszuschließen, weil sie vom dortigen Rundfunk beim Halbfinale abschätzig kommentiert worden sei. Tatsächlich wurde der Song allerdings auch aus anderen Nationen als "grauenhaft" geschmäht. Gleichwohl reichte es für die Spitzengruppe des Finales mit 25 Teilnehmern: Platz 6.

Die israelische Sängerin Eden Golan, die vom europäischen TV-Publikum hervorragende 323 Punkte bekam (die Jurys hatten zuvor nur bescheidene 52 vergeben) und damit insgesamt den fünften Platz belegte, hatte kurz vor ihrem Auftritt mit dem Song "Hurricane" gepostet: "Heute Nacht teile ich UNSERE Stimme mit der Welt und werde die beste Performance liefern, die ich kann. Ich liebe euch alle so sehr!!"

Ob Eden Golan bei ihrem Auftritt in der Halle "ausgebuht" wurde, wie es die "Bild"-Zeitung kolportierte und wie Nachrichtenagenturen meldeten, war der TV-Sendung nicht ohne Weiteres zu entnehmen. Das Boulevard-Blatt spekulierte über eine "tontechnische Anpassung" des schwedischen Fernsehens. In den Videos, die eilig aus dem Saal gepostet wurden, war rein akustisch keine eindeutige Stimmungslage auszumachen.

Im Vorfeld hatte es Debatten um den israelischen Beitrag gegeben, weil die ursprüngliche Fassung des Liedes, "October Rain", dem Veranstalter, der europäischen Rundfunkunion EBU zu politisch anmutete. Der Titel bezog sich auf den Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober. Sogar der israelische Präsident hatte schließlich "Anpassungen" im Text gefordert, um eine Disqualifikation Israels zu vermeiden.

Holländischer Teilnehmer disqualifiziert

Der holländische Teilnehmer Joost Klein war wegen eines zunächst ungeklärten Vorfalls suspendiert worden. Es soll nach den Informationen des niederländischen Senders Avrotros darum gegangen sein, dass der Sänger den Eindruck hatte, hinter der Bühne gegen seinen Willen gefilmt zu werden, woraufhin er aggressiv reagiert und eine unwirsche Geste in Richtung einer Kamerafrau geäußert habe, aber nicht handgreiflich geworden sei: "Avrotros findet die Disqualifikation unverhältnismäßig und ist schockiert über die Entscheidung. Wir bedauern es zutiefst und werden später darauf zurückkommen", so Avrotros-Direktor Taco Zimmerman [externer Link]. Mit Israel habe der Vorfall entgegen anderslautender Medienberichten "überhaupt nichts" zu tun gehabt.

Im Video: Sänger Nemo hat in Malmö gewonnen

Nemo aus der Schweiz jubelt bei der Punktevergabe im Finale des Eurovision Song Contest (ESC) 2024.
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Nemo aus der Schweiz jubelt bei der Punktevergabe im Finale des Eurovision Song Contest (ESC) 2024.

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